23.5.2024
Im Standpunt-Coaching stellen wir die Verbindung zwischen eingenommenen Standpunkten und unseren Ergebnissen her. Dabei geht es primär um Ergebnisse, die wir so nicht haben wollen.
Ein häufig eingenommener Standpunkt ist der sogenannte Opferstandpunkt. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum wir diesen Standpunkt einnehmen. Wir fühlen uns zum Beispiel ungerecht behandelt oder wir blicken neidisch auf die Ergebnisse einer anderen Person. Es ist auch möglich, dass wir tatsächlich Opfer wurden, zum Beispiel Opfer eines Verkehrsunfalls oder Opfer eines Verbrechens. Ein Opfer zu werden liegt in der Regel nicht in unserer Hand, sich danach als Opfer zu fühlen und auch daran festzuhalten, liegt jedoch in unserer Verantwortung. Es ist eine Wahl, die wir treffen, wenn auch meistens unbewusst.
Wie bereits in einem früheren Beitrag geschrieben entwickelte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis1831) ein Erkenntnismodell, das auch als „Hegelsche Dialektik“ bekannt geworden ist. Dem Modell folgend gibt es zu jeder „These“ auch eine „Antithese“, also einen gegensätzlichen Standpunkt. Als „Synthese“ bezeichnete Hegel dabei einen dritten Standpunkt, der quasi ein verbindendes Element zwischen These und Antithese darstellt. Die Synthese ermöglicht neue Sicht- und Handlungsweisen.
Folgen wir diesem philosophischen Ansatz, ist der Opferstandpunkt die These. Wo es Opfer gibt, muss es auch Täter geben, denn um uns als Opfer erfahren zu können, benötigen wir einen Täter. Somit wäre der Täterstandpunkt die Antithese. Das eine bedingt das andere. Aber was haben wir davon, wenn wir uns als Opfer fühlen?
Unser Verstand hat den Opferstandpunkt aufgrund von gemachten Erfahrungen als Lösungsstrategie gewählt. Er ist somit so etwas wie ein Erfahrungsstandpunkt, über den er auch Recht behalten will. Opfer zu sein ist gesellschaftlich anerkannt. Uns wird Beachtung geschenkt, wir ernten Mitgefühl. Opfergeschichten werden gerne erzählt und gerne gehört. Wer will schon die Geschichten eines Täters hören?
Uns fällt dabei zunächst gar nicht auf, dass wir auf dem Opferstandpunkt zeitnah auch zum Täter werden, den Täterstandpunkt einnehmen. Als Opfer haben wir nämlich das Recht auf Rache, das wir auf dem Täterstandpunkt wahrnehmen. Wir werden selbst zum Tätigen, ein belebender und befreiender Standpunkt. Darin liegt unser Gewinn, in Aufmerksamkeit, im Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe gleichgesinnter Opfer, in unserem Recht auf Rache.
Tatsächlich steigen wir jedoch in eine Abwärtsspirale aus Opfer sein und Rache nehmen ein. Wir fühlen uns machtlos, resignieren, leiden unter dem Verhalten anderer, geben das Steuer unseres Lebens aus der Hand, kompensieren das mit Taten, mit unserer Vergeltung. Wir reagieren nur noch, sind quasi im Überlebensmodus. Die Machtlosigkeit des Opferstandpunktes führt zu verstärkten Ängsten. Unsere urzeitlichen Überlebensmuster Flucht, Kampf oder Starre werden zum täglichen Begleiter. Glücklich und erfüllt Leben sieht anders aus - ein hoher Preis, den wir für unser Drama auf dem Opferstandpunkt zahlen.
In unserer Gesellschaft drückt sich unser Überlebensmuster auf dem Opferstandpunkt häufig in einer Art Starre aus. Wir ziehen uns zurück, konsumieren Alkohol oder andere Drogen, sedieren uns mit Social Media und Streaming-Diensten, suchen nach Glück und Erfüllung im Konsum, vereinsamen immer mehr, fühlen uns noch machtloser.
Und nun? Folgen wir der Hegelschen Dialektik, muss es noch einen weiteren Standpunkt, eine Synthese geben. Wir nennen ihn den Urheberstandpunkt. Dieser Standpunkt wird von Organisationen und Coaches, die im Ursprung der gleichen Coaching-Philosophie folgen, auch anders genannt, so zum Beispiel Autoren- oder Gestalterstandpunkt. Ich nenne den Urheberstandpunkt gerne auch Standpunkt der Eigenverantwortung.
Das Opfer-Täter-Spiel ist ein inszeniertes Drama unseres Verstandes. Es dient unserem Schutz, ist also nicht gegen uns gerichtet. Warum das so ist, lies gerne in meinem Blog-Beitrag „Mein Freund, der Verstand“. Wir nehmen den Opferstandpunkt immer wieder ein. Er fühlt sich dadurch sehr natürlich, sehr gewohnt an.
Auf dem Opferstandpunkt suchst du Begründungen für deine Ergebnisse. Du identifizierst deine Opferstandpunkte auch sehr schnell an Vorwürfen, die du hast. Wie du sie erkennst, lies gerne in meinem Blog-Beitrag „Vorwürfe oder die Illusion, anders wäre es besser“.
Wie nimmt man nun den Urheberstandpunkt ein?
Stimme der gemachten Erfahrung zu, durch die du dich als Opfer fühlst. Zustimmen heißt nicht, die Erfahrung auch gut zu finden. Aber es ist so, wie es ist. Geschehenes kann nicht rückwirkend verändert werden. Du kannst nur deine Sichtweise drauf verändern.
Vergib dem Täter. Das ist ein gedanklicher Prozess. Dazu brauchst du keine andere Person. Vielleicht lebt sie gar nicht mehr oder du hast schon lange keinen Kontakt. Eventuell fühlst du dich auch als Opfer deines eigenen Handelns oder Nichthandelns. Dann vergib dir selbst. Du musst dich nicht an dir selbst rächen, dich selbst bestrafen, in dem du dir Glück und Erfüllung versagst.
Erkenne deine eigene Täterschaft an und bemühe dich um einen Ausgleich. Manchmal reicht schon das Wort "Entschuldigung".
Nimm den Urheberstandpunkt ein. Erkenne an, dass du dieses Drama selbst erschaffen hast. Übernimm die Verantwortung für die Ergebnisse in deinem Leben. Du wirst merken, wie machtvoll dieser Standpunkt ist, da du das Gefühl haben wirst, dein Leben wieder selbst zu steuern. Auf dem Urheberstandpunkt stellt sich die Lebensfreude ein, die als Opfer und Täter nicht möglich ist.
Ich wünsche dir inspirierende Erkenntnisse verbunden mit vielen machtvollen, schöpferischen Momenten.
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