9.12.2024
Außendienstbegleitung: Meine Kollegin und ich sitzen im gastronomischen Bereich eines EDEKA-Marktes im Weserbergland. Die Zeit reicht für einen kleinen Mittagssnack vor unserem nächsten Termin. Ich bereue meine Wahl: Ein mit Käse belegtes Brötchen. Soweit, so gut, aber es ist mit Remoulade „verfeinert“. Das hatte ich nicht gesehen. Aber ich hatte auch nicht danach gefragt, ob sie für die Zubereitung Remoulade verwenden.
Wir lassen das gerade hinter uns liegende Gespräch Revue passieren. Plötzlich steht ein kleines Mädchen neben mir und strahlt mich an. Ich lächele zurück und schaue mich gleichzeitig nach einer Begleitperson um. Die Mutter steht in unmittelbarer Nähe. Ich wende mich wieder der Kleinen zu. Sie strahlt mich mit ihren leuchtend blauen Augen unvermindert an. Während ich mit ihr spreche, habe ich meine linke Hand auf meinem Oberschenkel abgelegt. Das Mädchen ergreift einen meiner Finger und umschließt ihn mit ihrer kleinen Hand. Dabei schaut sie mir intensiv in die Augen. Mein Herz geht auf. Als wolle sie Tschüss sagen, löst sie nach einem kurzem Moment und einem intensiven Blick ihre Hand von meinem Finger und läuft noch etwas unbeholfen die wenigen Schritte zu ihrer Mutter. Ich tausche mit der Mutter noch ein paar Worte aus, dann verlässt sie mit dem Mädchen auf dem Arm den Markt.
Mich hat die Begegnung mit dem Mädchen sehr berührt. Es war ein kurzer intensiver Moment menschlicher Verbundenheit. Ich denke im Laufe des Tages noch öfter daran zurück.
Einen Tag später auf einer privaten Feier: Meine Tischnachbarin kannte ich bisher nicht. Wir unterhalten uns auch darüber, was wir beruflich machen. In dem Zusammenhang erzähle ich ihr von der Begegnung mit dem kleinen Mädchen und wie mich das berührt hat. Sie schaut mich einen Moment an und erwidert dann: „Das deutet auf eine Bindungsstörung des Mädchens hin“. Meine Tischnachbarin begründet ihre Aussage mit ihrer beruflichen Erfahrung im Umgang mit Kindern. Das kleine Kind könne augenscheinlich nicht zwischen ihrem engeren Bezugskreis wie ihrer Familie und Fremden unterscheiden.
Ich bin erneut sehr berührt - dieses Mal aber unangenehm. Mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, was ich entgegnen soll. Sprachlos bin ich eigentlich selten.
Natürlich weiß ich, dass es Menschen gibt, die es nicht gut mit anderen Menschen meinen - auch nicht mit Kindern. Gleichzeitig ist mehrfach belegt, dass die mit Abstand meisten Fälle von Gewalt und Missbrauch im engeren Umfeld der Kinder stattfinden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir Menschen im völligen Vertrauen auf die Welt kommen und dass Misstrauen angelernt ist - aufgrund eigener Erfahrungen, die wir machen, und aufgrund gesellschaftlicher Kontexte.
Mein Menschenbild ist ein anderes. Wir sind nicht grundsätzlich böse und müssen uns Vertrauen erst verdienen. Ich möchte keine Kinder grundsätzlich vor anderen Menschen warnen, sondern ihnen vermitteln, sich selbst und ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Natürlich sollen sie nicht einfach mit Fremden mitgehen. Aber muss ich dafür generell vor fremden Menschen warnen? Oder sogar eine Bindungsstörung diagnostizieren? Stempel: „Psychisch krank“? Ich habe da so meine Zweifel.
Unsere Gesellschaft ist ohnehin stark in Angst und Misstrauen verhaftet. Das ist eine Folge des Mangelstandpunktes, den wir nahezu permanent einnehmen. Es ist nie genug, es reicht nie aus. Das ist die Basis unseres wirtschaftlichen Handelns. Mehr, mehr, mehr. Die Folge sind psychische Erkrankungen und Vereinsamung - ebenfalls ein milliardenschweres Geschäft.
Kleine Kinder leben im Hier und Jetzt, sind glücklich im Sein. Wir Erwachsenen haben verlernt, im Moment zu sein, für das Dankbar zu sein, was wir haben. Verlernt, was es bedeutet, die Fülle zu sehen. Wir streichen im Diktat die Fehler an und rücken sie in den Fokus, anstatt das zu sehen, was alles richtig geschrieben ist. Wir sehen die, die sich krank gemeldet haben, die fehlen, nicht die, die zur Arbeit gekommen sind. Wir zählen die Fachkräfte, die uns fehlen, anstatt für die dankbar zu sein, die mit uns neues erschaffen.
Auf dem Füllestandpunkt finden wir Liebe und Vertrauen. Dankbarkeit eröffnet uns den Weg dorthin. Wenn ich einen kleinen Menschen dabei unterstützen kann, sich die Fülle zu bewahren, das Vertrauen in sich selbst und andere, dann ist das das größte Geschenk, das ich mir machen kann.
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