5.9.2023
Bei Jochen treffen sie sich häufig und gern. Jochen hat ein großes Zimmer und seine Familie lebt in einem eigenen Haus mit viel Platz für die Mopeds vor der Tür. Die Familie ist sehr gastfreundlich und für die Jugendlichen ist immer gut gesorgt. Neben Getränken gibt es meistens auch Chips, Salzstangen und was man sonst noch so braucht, um erfolgreich abzuhängen.
Auf dem kleinen Beistelltisch steht eine Schale, die gutgefüllt mit Weintrauben ist. Antek probiert zunächst eine der Trauben, dann viele weitere. Nach einer Weile hört er Jochen sagen: „Haben dir die Weintrauben geschmeckt? Du hast die ganze Schale leer gegessen.“ Antek zuckt unbeeindruckt mit den Schultern. Jochen lässt sich seine Verärgerung nicht anmerken. „Das ist jetzt blöd, denn die Weintrauben hatte ich als Insektenfalle vorgesehen und daher ordentlich mit Insektenmittel eingesprüht.“ Während Antek die Gesichtsfarbe wechselt, verzieht Jochen keine Miene.
Es dauert nicht lange und Anteks Magen meldet sich. Zu Beginn ist es ein leichtes Ziehen, das sich langsam steigert. „Hattest du die wirklich eingesprüht?“ Jochen nickt: „Ja, habe ich doch gesagt. Du hättest ja mal fragen können, bevor du sie isst.“ Minuten vergehen und zu den stärker werdenden Schmerzen gesellt sich eine leichte Übelkeit. „Ich glaube, ich habe mich vergiftet“, gibt Antek in die Runde. Der ein oder andere schaut besorgt. Nach weiteren Minuten treten die ersten Schweißperlen auf der Stirn auf. Antek steht mit den Worten auf: „Ich fahre jetzt ins Krankenhaus“. Auch die Knie sind schon weich.
Jochen lacht schallend: „Setz dich wieder hin. Die waren nicht eingesprüht. Ich hatte mich nur über dich geärgert.“ Die anderen Jungs lachen ebenfalls. Antek ist noch zurückhaltend mit seiner Erleichterung. „Wirklich? Du willst mich doch nur beruhigen.“ „Nein, setzt dich“, sagt Jochen energisch. Antek setzt sich wieder. So langsam reift das Vertrauen in ihm, dass es sich wohl wirklich nur um einen Scherz handelte. Und wer würde auch wirklich eingesprühte Weintrauben als Insektenköder hinstellen? Obwohl Jochen sowas durchaus zuzutrauen wäre. Er hatte öfter verrückte Ideen. Aber der Schmerz und die Übelkeit ließen schon nach. Scheinbar noch mal Glück gehabt.
Antek war mein damaliger Spitzname. Er fiel mir beim Schreiben dieses Beitrags wieder ein. Die Geschichte ist 46 Jahre her und ich hatte das erste Mal die einprägsame Erfahrung gemacht, wie mächtig mein Verstand ist und welche körperlichen Reaktionen möglich sind, wenn er schlussfolgert, ich sei in Gefahr.
Wenn du häufig Situationen als gefährlich, als gegen dich interpretierst, musst du dich nicht wundern, wenn das auch körperliche Auswirkungen hat. Insofern solltest du immer Wachsam über die Schlussfolgerungen deines Verstandes sein. Ist die Situation gerade wirklich so, wie du sie bewertest? Grundsätzlich meint es dein Verstand natürlich gut mit dir. Er will dich nur beschützen, dein Überleben sichern - seine einzige Aufgabe. Das macht er doch gut, oder? Sonst könntest du diesen Beitrag jetzt gar nicht lesen.
Übe dich darin, neben deiner Bewertung auch eine andere Sichtweise zuzulassen. Sonnenschein ist Sonnenschein. „Schönes Wetter“ ist eine Bewertung.
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