20.6.2022

Bewerte, aber entwerte nicht

Wir Menschen verfügen über ein eindrucksvolles Bewertungssystem, das unser Leben schützt. In Bruchteilen von Sekunden wissen wir, dass der Bus zu schnell ist, um noch vorher über die Straße zu laufen. Bereits in Urzeiten rief unser Verstand blitzschnell bei der Begegnung mit dem Säbelzahntiger ein anderes Programm ab als bei einem Urzeithirschen.

In neuerer Zeit verwenden wir unser Bewertungssystem jedoch immer häufiger als Entwertungssystem. Wir entwerten andere zum Beispiel als Spinner oder Idioten, wenn sie anderer Meinung sind. Was vor ein paar Jahren nur Gedanken waren, „sprechen“ wir heute aus. Social Media bietet uns wunderbare neue Möglichkeiten, um andere Menschen zu entwerten. Gut verfolgen können wir das am Geschehen rund um Corona und nicht nur auf Social Media. Ein respektvoller Diskurs mit dem Austausch sachlicher Argumente scheint immer seltener möglich zu sein - und bringt auch keine Einschaltquoten, Auflagen und Follower.

Unser gegenseitiges Entwerten macht etwas mit uns, nicht nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen und als Gesellschaft, denn unser Entwertungssystem wirkt auch nach innen. Wenn ich zum Beispiel eine übergewichtige Person als „fette Kuh“ oder „Fettsack“ sehe, hat das Einfluss auf meine Bewertung über mich selbst. Vielleicht habe ich selbst Übergewicht und entwerte mich dafür oder ich fahre eine anstrengende Vermeidungsstrategie, damit ich nicht übergewichtig werde. Es ist ein Unterschied, ob ich schlank und vital sein möchte, weil es gesünder ist, oder ob ich vermeiden will, eine fette Kuh oder ein Fettsack zu sein.

Unsere Bewertungen über uns selbst sind uns meistens nicht bewusst, aber sie beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln. Darum achte auf deine Gedanken und bewerte, aber entwerte nicht.

„Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul.“